Emilie

EIN BEITRAG VON SIMONE GAUB

Als ihr die Ärztin eröffnet, dass sie eine Tochter mit Down-Syndrom bekommen wird, ist Simone Gaub überglücklich. Denn eine Tochter hat sie sich immer gewünscht. Dass das Kind eine Behinderung hat, ist für sie zweitrangig.

frisch geschlüpft

Letztes Jahr saß ich in meiner Praxis und hielt ungläubig einen positiven Schwangerschaftstest in meinen Händen. Ich war bereits älter als 40 und hatte in den letzten fünf Jahren zwei Fehlgeburten erlitten. Niemals hätte ich gedacht, dass es noch einmal klappen würde. Ich hatte Gänsehaut, weinte und brauchte noch drei weitere Tests, um zu glauben, dass in meinem Bauch ein Leben entstanden war. Ein Leben, das ich mir so sehr gewünscht hatte, aber nicht mehr daran geglaubt hatte.

Obwohl meine großen Kinder längst selbständig waren, ich beruflich sehr erfolgreich war und meine Freiheit wieder genießen konnte, spürte ich Freude und Aufregung. Ich war schwanger. Die Chance hierfür lag in meinem Alter bei unter fünf Prozent und dazu kam ein Fehlgeburtsrisiko von 75 Prozent.

Zwölf Wochen Übelkeit, Erbrechen und Angst. Angst, das kleine Herzchen könne aufhören zu schlagen und meines daran zerbrechen. Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich nach der zwölften Schwangerschaftswoche zum Arzt ging und alles in Ordnung war.

Risiko für Trisomie 21 lag bei 1:100

Aufgrund meines Alters prasselte nun die ganze Palette der Pränataldiagnostik auf mich ein. Im Ultraschall wurde absolut nichts Auffälliges gefunden, eine Fruchtwasseruntersuchung lehnte ich wegen der Gefahr eines Abortes ab und somit blieb für mich maximal der Praenatest.

„Frau Gaub, ihr Risiko liegt bei 1:100 für eine Trisomie 21. Mit einem Praenatest haben Sie Gewissheit”, sagte der Arzt. Ich sagte, dass kein Test der Welt eine Konsequenz nach sich ziehen würde, doch mein Partner meinte: „Komm, lass uns den machen, denn dann sind wir zu 100 Prozent sicher.”

Mein Herz klopfte bis zum Hals

Ich fieberte dem Anruf der Pränatalpraxis entgegen, denn ich habe drei große Jungs. Der Wunsch nach einer Tochter war immer tief in mir verankert und der Praenatest zeigt nicht nur Auffälligkeiten der Chromosomen, sondern verrät mir auch das Geschlecht meines Kindes. Eine Woche nach der Blutabnahme klingelte das Telefon. Ich saß auf dem Sofa und mein Herz klopfte bis zum Hals. Nie im Leben hatte ich mit einer Diagnose gerechnet, nervös war ich nur, ob das kleine Wunder ein Mädchen oder ein Junge sein würde. Lieben würde ich jedes Geschlecht, Hauptsache gesund.

Ich wurde zur Ärztin durchgestellt und sie sagte: „Frau Gaub, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ihr Baby zu 99,5 Prozent eine Trisomie 21 hat.”

„Ja, OK” sagte ich, „und welches Geschlecht hat es?”

Die Ärztin teilte mir mit, dass es weiblich sei, und fragte mich noch mal eindringlich, ob ich auch verstanden habe, was sie mir zuvor mitgeteilt hatte.

Ich sagte: „Ja, ich habe Sie verstanden. Ich bekomme eine Tochter mit Downsyndrom.” Ich legte auf. Mein Herz schlug Purzelbäume. Ich sollte tatsächlich eine Tochter bekommen. Ein kleines Mädchen, welches ich zu dem Zeitpunkt bereits in meinem Bauch zart spüren konnte. Mein Wunschkind.

Ja, ich kenne das Down-Syndrom. Ich arbeite seit vielen Jahren als Heilpraktikerin und Osteopathin und betreue hauptsächlich Frauen mit Kinderwunsch. Ich sagte so oft: „Ein Kind mit Downsyndrom würde ich auf jeden Fall bekommen” und oft bekam ich als Antwort: „Das siehst du nur so, weil du nicht betroffen bist.“ Jetzt war ich betroffen, aber die Betroffenheit blieb aus.

Ich hatte fünf Wochen Zeit, mich zu entscheiden

Müsste ich jetzt nicht sofort weinen? Verzweifelt sein? Angst bekommen? Mich entscheiden? Ich spürte nichts. Erst später am Tag weinte ich und hielt ängstlich meinen Bauch. Ich sprach mit meiner Tochter und betete, dass sie körperlich gesund sein möge. Ich versprach ihr, alles zu tun, damit es ihr gut geht.

Am nächsten Tag hatte ich einen Termin beim Genetiker. Er sagte mir, ich hätte jetzt fünf Wochen Zeit, mich zu entscheiden. Er skizzierte mir das Prozedere einer Spätabtreibung. Ich sah aus dem Fenster, legte meine Hände auf meinen Bauch und spürte die zarten Blubberbewegungen von meiner geliebten Tochter. Die Worte des Genetikers drangen wie durch einen dichten Nebel zu mir durch und ich dachte mir: „Was hat das mit uns zu tun?” Es kam mir vor, als redete er nicht von mir.

Hallo? Redet der von mir?

Er erklärte mir, dass man die Wehen einleiten würde und dass diese dem Baby den Sauerstoff nehmen würden. Das würde so lange gehen, bis das Baby tot ist und ich es dann zur Welt bringen müsste. Würde meine Entscheidung in die Zeit nach der 23. Woche fallen, würde man das Baby mit einer Injektion töten, bevor man die Wehen zur Geburt einleitet.

Ich stelle mir seine Worte bildlich vor und hatte zum ersten Mal das Gefühl, ich müsse mein Kind schützen - vor diesen grausamen Ausführungen, die absolut nichts mit mir und meinem Kind zu tun hatten. Ich tat doch alles für mein Baby, ich verzichtete in der Schwangerschaft auf jedes noch so kleine Risiko und ich hoffte bei jedem Ultraschall, dass ihr kleines Herz schlägt.

Mir wurde schlecht und schwindelig und ich sagte, er könne sich die weiteren Ausführungen der Abtreibung sparen. Ich bat ihn stattdessen, mir Infos und Kontakte zu geben. Ich müsse mich nicht entscheiden, sagte ich. Ich hatte mich bereits vor dem positiven Test für ein Baby entschieden und dieses Baby war nun da. Zwar noch in meinem Bauch, aber sie war da. Ich spürte sie. Deutlicher denn je.

Sie ist ein Mensch, der leben möchte

Ihr Name ist Emilie und Emilie hat das Down-Syndrom. Sie ist kein Fötus, dessen Leben ich an dieser Stelle unterbreche. Sie ist mein Kind und ein Mensch, der leben möchte.

Stolz und stark verließ ich die Praxis, bereit, für mein Kind und seine Gesundheit zu kämpfen. „Neun von zehn Frauen bekommen ihr Kind nicht”, hörte ich den Arzt noch sagen, als ich nach Hause kam, den Laptop an machte und „Down-Syndrom” in die Suche eingab. Da kamen sie, die vielen Berichte zum Thema Abtreibung.

Mein Umfeld bekam ein anderes Gesicht

Ich wurde von Bekannten gefragt: „Wie wirst du dich entscheiden?” Es gab Menschen, die sagten: „Sowas muss man ja heutzutage nicht mehr bekommen.” Mein Umfeld bekam plötzlich ein anderes Gesicht, es wurde schwarz-weiß. Die einen, die sich mit mir auf mein Kind freuten,und die anderen, die einem behindertem Kind nicht das gleiche Recht auf Liebe und Leben einräumten.

Menschen, die vielleicht Angst vor der Zukunft haben und für die es eine Lösung zu sein scheint, das Problemkind aus der Welt zu schaffen. Ein Kind wie mein Kind. Ich wurde zur Löwin und hütete meinen Bauch voller Liebe. Ich distanzierte mich von jedem, der meinem Kind negativ gegenüberstand. Ich sortierte aus und bereitete alles auf ein liebevolles Willkommen in meiner Familie vor. Emilie war gewollt und geliebt und das sollte sie immer spüren.

Natürlich hatte ich Ängste bei den folgenden engmaschigen Ultraschalluntersuchungen. Ich hatte Angst, mein Kind könnte krank sein. Ich hatte Angst, sie müsse leiden. Die größte Angst hatte ich vor einem Herzfehler, den man nach der Geburt hätte operieren müssen. Ich wollte wie jede Mama, dass es meinem Kind gut geht.

Ich bereitete mich vor und sehe bis heute die Praenataldiagnostik als Chance der Vorbereitung. Ich sah Filme und Dokumentationen, las Artikel und Bücher und suchte mir eine Entbindungsklinik, die auf die Ankunft meiner besonderen Prinzessin vorbereitet war. Emilie kam am 22. Oktober 2017 vier Wochen zu früh spontan auf die Welt.

Da bin ich!

Die Angst um das eigene Kind ist immer da

Aber hatte ich nicht in jeder Schwangerschaft Angst, dass mein Kind krank sein könnte, dass es zu früh auf die Welt kommen könnte, dass es Komplikationen während der Geburt geben würde? Und hatte ich nicht schon das ganze Leben meiner Söhne Angst, dass ihnen etwas passieren könnte? Diese Ängste haben doch nichts mit dem Downsyndrom zu tun. Die Angst um das eigene Kind ist immer da. Egal wieviele Chromosomen es mitbringt. Eine Garantie auf Gesundheit gibt es nicht. Für niemanden von uns.

Die Schwangerschaft verlief unkompliziert. Man konnte ein paar Softmarker erkennen, aber Hiobsbotschaften blieben aus. Ich war glücklich. Ich hatte Zeit, mich zu informieren, ich lernte tolle Familien und ihre wunderbaren Kinder kennen und nahm bereits Kontakt zu einer Frühförderstelle und einer Schwangerenberatung auf.

Sie hat ein Chromosom mehr, ist gesund und mein ganzer Stolz

Sie hat ein Chromosom mehr, ist gesund und mein ganzer Stolz. Was uns das Leben mit dem Down-Syndrom bringen wird, wissen wir nicht und es wird sicher nicht immer einfach sein, aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir alles schaffen können. Kennen Sie den Satz: „Hauptsache gesund”? Ich sage lieber: „Hauptsache geliebt”.

Emilie, ich liebe dich und ich freue mich, dich auf deinem Lebensweg zu begleiten. Deine Mama.